Wird der Staat zunehmend autoritärer?

von Ioannis Alexiadis

In den Sozialen Medien äußern Menschen die Sorge, dass der Staat die Pandemiemaßnahmen ausnutzen könnte um die Freiheit seiner Bürger dauerhaft einzuschränken.

Ich habe mir angefangen von Jewgeni Samjatins „Wir“ bis Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ einige dystopische Romane durchgelesen. In allen wurde eine besorgniserregende zeitgenössische Beobachtung auf die Zukunft übertragen. George Orwells Überwachungsstaat oder Aldous Huxleys Mensch als Geisel von Wissenschaft und Technologie sind in der Gegenwart Realität geworden, wenn auch in einer völlig anderen Form wie es sich die Autoren gedacht haben und zu einem anderen Ausmaß, wie in ihren Romanen geschildert. Wir beobachten das Vorhandensein des Sozialen Kreditsystems in China und restriktive Maßnahmen aufgrund der Pandemie und fragen uns wie die aktuelle Situation zu bewerten ist. Sind unsere Freiheiten dauerhaft in Gefahr? Gibt es Parallelen zur Vergangenheit?

Gefahr von oben und von unten

Ein interessanter Gedanke den einst Alexis de Tocqueville äußerte, ist folgender: Reformen die neue Freiheiten gewähren, steigern die Wahrscheinlichkeit von Revolutionen. Mehr Freiheit und Demokratie in Kombination mit technologischem Fortschritt haben die Konsequenz, dass eine Gesellschaft transparenter wird. Transparenz heißt, Diskriminierung, Korruption und amoralisches Verhalten werden sichtbarer und lesbarer. Der Staat zieht Nutzen aus der höheren Lesbarkeit seiner Bürger für  seine effizientere Verwaltung und die Nachverfolgung verdächtigen Verhaltens. Die höhere Sichtbarkeit löst auf der anderen Seite Reaktionen durch die Zivilgesellschaft aus. Obwohl früher das Ausmaß von Unterdrückung wesentlich höher war, erscheint es aktuell größer, weil schlichtweg mehr und offener darüber berichtet wird. Die Transparenz unserer offenen Gesellschaft durch Soziale Medien, Pressefreiheit und Demokratie sorgt für mehr Unzufriedenheit und Intoleranz.

Eine offene Gesellschaft ist nicht nur durch einen zunehmend autoritären Staat bedroht, sondern auch durch eine Revolution von „unten“, die durchaus in Bürgerkrieg und Anomie ausarten kann. Das Dilemma in dem wir uns aktuell befinden lautet folgendermaßen: Unfreiheit und Unterdrückung ist in vielen Teilen der Welt massiv zurückgegangen, während gleichzeitig das administrative und technologische Potential zur Unterdrückung gestiegen ist.

Wann Sorgen machen?

Dies bedeutet nicht, dass man sich keine Sorgen machen sollte. Es ist aber wichtig die aktuelle Situaton realistisch einzuschätzen. Wer autoritäre Maßnahmen durch die Pandemie langfristig legitimiert sieht, begeht folgenden Denkfehler. Das System das autoritär mit der Krise umgeht war bereits vor der Pandemie da. Alles was wir beobachten ist nicht neu entstanden. Es sind die Mittel die dem Staat zur Verfügung standen bevor Corona einsetzte.

Zweifellos haben einige politische Akteure Interesse ihre ideologisch motivierte Agenda umzusetzen und dafür auch die Pandemie auszunutzen, aber ohne die Erschaffung von Institutionen werden sie ihre Ziele nicht umsetzen können. Sie brauchen neue Möglichkeiten der Kontrolle. Erst wenn neue Behörden, etc. geschaffen werden, die über die Pandemie hinaus bestehen bleiben, besitzt der Staat erweiterte Handlungsfähigkeit.

Wie wird der Staat vorgehen?

Die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung des Staatswillens wird sicherlich ein Mittel sein, aber nicht in dem Ausmaß wie es früher üblich war. Polizisten stehen heutzutage im Blick der Öffentlichkeit und überzogene Gewalt sorgt sehr schnell für Empörung.

Gemäß meinen Beobachtungen tippe ich auf verstärktes Nudging. Nudging ist eine akademische Theorie aus der Verhaltensökonomik und beschreibt einen libertären Paternalismus. Der Staat versucht durch subtile Beeinflussungsmaßnahmen seine Bürger auf die „rationale“ Entscheidung hin zu lenken.

Form und Ausmaß der Maßnahmen sind noch offen, aber es gibt bereits einige Beispiele:

Für eine weiterführende Literatur empfehle ich zum Thema Ideologie mein Buch Ideologie: Die bessere Gesellschaft und ihre Freunde und zur Sichtweise von Staaten James C. Scott: Seeing Like a State.

Verwandte Beiträge

Einen Kommentar schreiben