Szientismus

von Ioannis Alexiadis

Wie er uns zum Scheitern führt, dargelegt am Beispiel der Pandemie

Szientismus (oder auch Wissenschaftismus genannt) beschreibt eine Haltung zur Wissenschaft, die in der heutigen Zeit noch allgegenwärtig ist. Wissenschaft ist zur Identität geworden. Wissenschaft soll der Erlöser sein, der letzte Richter über die Realität. Was die Wissenschaft nicht erfassen kann, ist irrelevant. In Wirklichkeit gibt es einen Unterschied zwischen Wissenschaft und Management, sowie anderen Kompetenzen. Dies hat uns aktuell das schlechte Pandemie-Management vor Augen geführt.

Von der Philosophie zur Wissenschaft

Im frühen Mittelalter pflegten Klöster das Wissen der Antike, ehe im zwölften Jahrhundert die ersten Universitäten in Europa gegründet wurden. Im Unterschied zu früheren Akademien waren diese nicht an eine reiche oder einflussreiche Persönlichkeit gebunden, die als Sponsor fungierte. Die neuen Universitäten waren Institutionen die unabhängig von Individuen weiterexistieren konnten. In der Hinsicht waren die mittelalterlichen Universitäten die ersten Vorgänger moderner Körperschaften.[1] In ihnen wurde Recht, Medizin und vor allem Theologie gelehrt. Europa profitierte im Mittelalter von religiöser Einigkeit und politischer Zerklüftung. Die Gelehrten genossen dadurch sehr viel Freiheit, weil sie bei Streitigkeiten oder konträrer Meinung Schutz bei der Kirche oder bei einem säkularen Herrscher finden konnten, je nachdem wer sie bedrohte. Die Naturphilosophen benötigten Schutz und Finanzierung von der Kirche oder einem Fürsten. Heutzutage sind Wissenschaftler abhängig von Regierungen oder Konzernen.

Widersprach die Bibel dem gesunden Menschenverstand, interpretierten die Denker des Mittelalters sie oft nicht wortwörtlich, sondern bildlich. Argumente heutiger Atheisten zur Nicht-Existenz Gottes waren den Gelehrten im Mittelalter durchaus bewusst. Wenn einige ihrer Thesen für uns heutzutage komisch wirken, liegt das daran, dass diese aus ihrer zeitgenössischen Sicht, mit den Mitteln die ihnen zur Verfügung standen und mit ihrem Kenntnisstand, durchaus Sinn ergaben.  Susan Haack vergleicht Wissenschaft mit dem Lösen eines Puzzles oder Kreuzworträtsels.[2] Wissenschaftliche Entdeckungen ergeben nach und nach ein klareres Bild von der Realität und ermöglichen anschließend weitere Entdeckungen. Die benachbart mögliche Erkenntnis kann dabei nicht vom Himmel fallen. Dringend benötigte Theorien oder Werkzeuge müssen bereits vorhanden sein, um daran anknüpfen zu können. Empirische Beobachtungen allein bringen uns nicht weiter, bevor sie in eine valide Theorie angefügt werden können. Wie wichtig eine theoretische Struktur ist wird dadurch veranschaulicht, dass die empirische Praxis in der antiken und mittelalterlichen Medizin keinerlei Fortschritte erzielen konnte und zu Behandlungsmethoden führte, die vielen Menschen das Leben kosteten.[3]

Die Sicht auf Dinge ist immer von einer zeitgenössischen Auffassung geprägt. Naturphilosophen waren gleichzeitig Magier oder Alchemisten, bis zu dem Zeitpunkt, ab dem Magie nicht mehr plausibel war. Der Sinneswandel lag am gewachsenen Kenntnisstand. Die Menschen blieben weiterhin sehr religiös. Erkenntnisse, die die moderne Wissenschaft begründet haben wurden von Naturphilosophen hervorgebracht, deren Erkenntnisdrang aus ihrem Glauben an Gott herrührte.  Als sich die Institutionen und der Wissenstand weiterentwickelten, ergab sich im 19. Jahrhundert eine neue Art von Forscher, der Wissenschaftler genannt wurde (Galileo Galilei oder Isaac Newton gehören nicht dazu). Er trennte das Metaphysische von der Erforschung der Natur.

Um Wissenschaft zu betreiben benötigen Wissenschaftler nicht nur Instrumente  wie Teleskop oder Mikroskop. Der Wissenschaftsbetrieb ist auf interne wie externe Mechanismen angewiesen um das oben beschriebene „Puzzeln“ auf nachhaltige Weise zu organisieren.  Die sozialen Aspekte des Wissenschaftsprozesses sind nicht zu unterschätzen. Wissenschaftler sind auch nur Menschen mit Vorurteilen und Fehlschlüssen. Die Naturwissenschaften haben es geschafft, sich so zu organisieren, dass Offenheit und Ehrlichkeit im Wettbewerb widerstreitender Positionen herrscht. Sie haben ein Umfeld geschaffen, das intern Freiheit und Wettbewerb garantiert und dadurch bemerkenswerte Erkenntnisse zu Tage gefördert hat. Die Sozialwissenschaften haben aber keine vergleichbaren Erfolge wie die Naturwissenschaften vorzuweisen. Einige ihrer Kritiker werfen ihnen daher vor, gar nicht wissenschaftlich zu agieren. Dies führt uns zur Frage, die dieses Buch stellen möchte. Was ist Wissenschaft und was erhebt nur den Anschein Wissenschaft zu sein?

Jon Elster definiert vier Kriterien, die jede harte Wissenschaft erfüllen sollte:[4]

  1. Es existiert ein allgemeiner Konsens unter den Anwendern was wahr oder falsch, eine Vermutung oder unbekannt ist.
  2. Es existiert ein kumulativer Prozesses bei dem widerlegte Theorien und Modelle für immer widerlegt werden.
  3. Die Hauptkonzepte und Theorien der Disziplin können klar und explizit ausgedrückt werden, sodass jeder der Zeit in ihr Studium investiert sie verstehen kann.
  4. Die Klassiker der Disziplin interessieren in erster Linie Wissenschaftshistoriker. Es existiert keine normative Autorität der Väter einer Disziplin.

Den „weichen“ Sozialwissenschaften (zum Beispiel Psychoanalyse) mangelt es an exakter Sprache und Striktheit. Sie erfüllen daher nur das Kriterium Nummer eins. Qualitative Sozialwissenschaften (zum Beispiel Geschichtsforschung) erfüllen alle Kriterien bis auf Nummer vier, während quantitative Sozialwissenschaften (Ökonomie) gegen die Kriterien eins und zwei verstoßen. Diese Kritik bedeutet nicht, dass Sozialwissenschaft nicht möglich ist. Sie muss aber kleinere Brötchen backen lernen.

Szientismus und seine Konsequenzen

Als praktische Konsequenz aus der Diskrepanz zwischen wissenschaftlichem Anspruch und akademischer Realität ergibt sich folgende Frage: Welchen Wissenschaftlern sollte ich vertrauen, dass sie robuste Wissenschaft betreiben?

Lutz Bornmann schlägt vor eine einfache Heuristik zu nutzen. Die Rekognitionsheuristik basiert auf der Reputation des Wissenschaftlers oder seiner Institution.[5] Sie ist nicht perfekt aber liefert schnelle Ergebnisse, die nicht schlechter als diese komplizierter Rating-Verfahren ist. Allerdings gilt sie nur für harte Fächer! Für einen hoch renommierter Professor der Ingenieurswissenschaft  am MIT basiert die Reputation auf robuster wissenschaftlicher Basis. Das gleiche gilt nicht für seine sozialwissenschaftlichen Kollegen an renommierten Einrichtungen wie Harvard.

Die Rekognitionsheuristik befriedigt unser Bedürfnis Wissenschaftismus zu erkennen aber nicht. Es gibt durchaus auch Sozialwissenschaftler die wertvolle Beiträge leisten. Außerdem können auch Naturwissenschaften missbraucht werden. Susan Haack hat sechs Zeichen des Szientismus definiert, die erkennen lassen, ob Wissenschaft zweckentfremdet wird: [6]

  1. Die dekorative Nutzung  der Begriffe Wissenschaft, wissenschaftlich und Wissenschaftler, in Fällen in denen sie nicht notwendig oder angebracht sind.
  2. Die inadäquate Übernahme wissenschaftlicher Methoden und Techniken um bei einer Untersuchung wissenschaftlich zu wirken.
  3. Das Aufstellen zu eng definierter Kriterien um Wissenschaft von Pseudowissenschaft zu unterscheiden. Haack kritisiert hier Karl Poppers Falsifikationsprinzip.  Wissenschaft hat keine klar definierbaren Grenzen, die Unterscheidung kann nur grob definiert werden. Laut Haack ist Wissenschaft lediglich eine besondere Form der empirischen Untersuchung, für die kein klar abgrenzbares Kriterium definiert werden kann.
  4. Die Vorstellung, dass eine allgemeine wissenschaftliche Methode existiert. Der Untersuchungsgegenstand der Forschung ist zum Teil strukturiert, zum Teil amorph, so dass immer verschiedene Herangehensweisen notwendig sind. Paul Feyerabend, der diesen Methodenzwang kritisierte, postulierte: „anything goes“.[7]
  5. Die Wissenschaft für Antworten die außerhalb ihres Zwecks liegen verwenden.
  6. Das nicht-wissenschaftliche abwerten und als minderwertig betrachten. Kunst, Religion, etc. bieten einen anderen Zugang zur Realität und wenn Wissenschaft diese anderen Formen der Untersuchung nicht würdigt, verschließt sie wichtige Quellen der Erkenntnis.

Oft treten diese Zeichen in Kombination auf. Ihre Konsequenzen gehen über den Wissenschaftsbetrieb hinaus und beeinflussen den Alltag der Menschen. Sie schlagen sich vor allem in einem falschen Verständnis von Rationalität nieder. Von Sam Harris bis Steven Pinker haben viele moderne Autoren versucht ein Bild der Rationalität zu erzeugen, das auf streng wissenschaftlichen Erklärungen basiert. Nassim Taleb hat sich gefragt warum gut klingende Erklärungen für alle Dinge bereit zuhalten so wichtig für unsere Gesellschaft sein soll. Sein Gedanke ist, dass nur das rational ist was das Überleben sichert.[8] Überleben ist wesentlich wichtiger als das Liefern von Erklärungen. Dementsprechend übersieht die moderne Auffassung von Rationalität die positiven Folgen von „irrational“ wirkenden religiösen Dogmen wie der Monogamie oder des Fastens. Man kann behaupten dass sie nicht ein positives Ergebnis, sondern einen (unter Umständen nachteiligen) Prozess beschreibt. Sie übersieht die Grenzen ihres sichtbaren Möglichkeitsraums. Herbert Simon vertrat die Ansicht, dass die Erfassung aller Informationen zu einer Fragestellung und das Abwägen aller möglichen Alternativen nicht möglich sind.[9] In der realen Welt ist für solche Tätigkeiten die Aufgabenstellung zu komplex und die Zeit zu knapp bemessen. Daher spricht er  von einer begrenzten Rationalität der menschlichen Entscheidungsfindung, in der oft weniger Informationen zu besseren Entscheidungen führen. Dies mag für moderne Rationalisten kontraintuitiv klingen, ist aber rational (klassisch rational) gesehen richtig. Es gibt nicht die Lösung oder das Werkzeug, das in allen Umwelten sinnvoll ist. Die jeweilige Umwelt entscheidet was rational ist. Manchmal muss man schnell und effizient handeln, ein anderes Mal sind soziale Aspekte wichtiger.

Rory Sutherland unterscheidet die logische Welt und die psycho-logische Welt. Die reine Konzentration auf Logik verbirgt seiner Ansicht nach den Blick auf andere Lösungswege. Zugänge zu Dingen der realen Welt könne auch über „Magie“ hergestellt werden. Logik ist bloß das Gerüst. Es ist das Irrationale, Kreative und Unbewusste, das die Welt um uns herum erschafft.[10] Das gilt auch für Wissenschaftler. Die wissenschaftliche Methode ist, wie vorher erwähnt, keine formalisierte Vorgehensweise. Wissenschaftler gehen vor, wie jedermann der die Wahrheit entdecken oder etwas empirisch prüfen möchte. Die größten Entdeckungen in der Geschichte der Medizin waren Zufallsprodukte.[11] Formalisierte Methoden stehen der Entdeckung oft im Weg. Ein Wissenschaftler benötigt Urteilsvermögen, das sich aus dem enormen Korpus seines Erfahrungsschatzes speist. Er muss entscheiden welche Beobachtung er nachverfolgen sollte und welche nicht.

Ein weiteres Problem ist, dass Menschen an eine Essenz der Wissenschaft glauben. Der Grund weshalb ein Ingenieur Pilot und ein Virologe Pandemie-Manager sein kann, ist auf etwas zurückzuführen das bereits Karl Popper kritisierte. Popper sah Platos Gedanken, dass eine Form der Dinge existiere und dass dies alles sei was die Philosophie studieren sollte, sehr kritisch.[12]

Seiner Ansicht nach habe dieser Gedanke sich über Hegel (der eine Essenz der deutschen Nation sah) und andere Philosophen in der Moderne gehalten. Er ist in dieser Gesellschaft immer noch allgegenwärtig. Der Ingenieur kennt die Essenz von Flugzeugen, also kennt er jeden Aspekt des Umgangs mit ihnen. Der Virologe kennt das Virus, er kennt seine Essenz, und weiß damit alles was und wie etwas dagegen unternommen werden kann. Es geht hier um den Unterschied zwischen Wissenschaft und Management und die ökologische Rationalität von Wissen. Ein Wissenschaftler ist in der Regel nicht fähig ein Unternehmen zu leiten, warum also von ihm erwarten eine Pandemie zu lösen? Rory Sutherland bringt es auf den Punkt, wenn er sagt, dass wir aktuell zu viele Logiker und zu wenig Alchemisten haben.

Die Folgen des Wissenschaftismus führen auch in anderen Bereichen zum Scheitern. So hat in der Vergangenheit die Agrarwissenschaft in armen Ländern ihre Ziele verfehlt. [13] Das Aufstellen vereinfachter Kategorien und die Präferenz von Monokulturen, weil sie wissenschaftlich beherrschbar sind, reduzieren Komplexität für den Wissenschaftler, aber werden der komplexen Realität nicht gerecht. Die traditionelle Erfahrung der lokalen Farmer in ihrer Umgebung  wurde komplett ignoriert und die Folgen des Einsatzes von Pestiziden in den Modellen nicht erfasst. Manche Wissenschaftler legen zu viel Vertrauen in ihre Werkzeuge. Wissenschaftliche Modelle können die Zukunft nicht vorhersehen, sondern sind eher als wissenschaftliches Spielzeug zu sehen. Sie geben ein Gefühl dafür wie sich dynamische Systeme verhalten und wie unvorhersehbar sie sind. Sie helfen dabei Strategien für den Umgang mit Herausforderungen und Risiken zu finden, indem sie das Urteilsvermögen des Wissenschaftlers schärfen.

Auch bei wissenschaftlichen Daten ist Vorsicht geboten. Für die Reaktion auf wissenschaftliche Ergebnisse müssen diese politisch interpretiert werden. Wie ist der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und der Gesundheit der Bevölkerung? Führt Krankheit zu Arbeitslosigkeit oder Arbeitslosigkeit zu Krankheit? Es können verschiedene Gründe für ein soziales Phänomen angeführt werden, die politischen Maßnahmen begründen. Dabei unterstützen wissenschaftliche Daten verschiedene Hypothesen zum diesem Thema.[14]

Ein weiteres Problem stellt eine zu starke Spezialisierung der einzelnen Fachbereiche dar. Die Grenzen zwischen den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen sind von Menschen gemacht und die Natur kennt diese nicht. Professionelle Wissenschaftler sind stark spezialisiert und ihnen fehlt oft die ganzheitliche Betrachtung der Phänomene dieser Welt, abseits ihrer fachlichen Vertiefung. Prinzipien kennen aber keine Fachgrenzen. Kaum ein Wissenschaftler kann seine Theorien und Konzepte über mehrere Fachgrenzen hinweg beschreiben. Nassim Taleb ist einer der wenigen, der seine Ideen aus der Wahrscheinlichkeitslehre über alle Fachgrenzen hinweg entwickelt hat, von der Finanzwelt, Medizin, Politik, Geschichte, bis zum  Ingenieurwesen. Zum Beispiel ist sein Konzept der Antifragilität übertragbar auf die meisten Domänen mit denen sich Wissenschaft beschäftigt. Antifragilität bedeutet, dass Dinge die einem dynamischen, unbeständigen und von Zufälligkeiten abhängigen System angehören, von dieser Unordnung im Zeitablauf profitieren.[15] Religionen werden beispielsweise in chaotischen Zeiten in denen Unordnung herrscht immer stärker, da Menschen in der Religiosität Zuflucht suchen und die Religion ihnen Halt gibt. Fragile Dinge lieben hingegen Ordnung und müssen diese durch viel Aufwand aufrechterhalten. Zerbrechliche Gegenstände wie Vasen oder Porzellan müssen ständig vor Gefahren beschützt werden, ebenso wie andere fragile Systeme (z.B. das aktuelle Finanzsystem), die ständig in Krisen hineinsteuern. Antifragile Dinge erleiden keinen Schaden durch schwarze Schwäne, sondern ziehen einen Nutzen aus ihnen. Sie machen nur kleine Verluste, erhalten aber verhältnismäßig große Gewinne. Dies Konzept ist so universell, dass es auf viele Bereiche des Lebens übertragen werden kann. Derjenige der darauf stößt, muss sich dafür in Disziplinen einlesen in denen er keine formale Ausbildung genossen hat.

Wissenschaft muss offen sein für Außenstehende. Interessierte Laien und Amateurwissenschaftler haben einen anderen Blick auf wissenschaftliche Problemstellungen und können diese immens bereichern, durch ihre persönliche Alltagserfahrung oder ihr lokales Engagement. Der motivierte Laie kann viel erreichen. Das bedeutet nicht, dass jeder der sich ein bisschen einliest Ahnung vom Thema hat. In den Sozialen Medien und im Fernsehen beruft sich jeder Halbgebildete auf die Wissenschaft und glaubt er wüsste etwas Wichtiges beizutragen. Es erfordert eine  gewisse Investition um Wissenschaft betreiben zu können, seien es Jahre des Selbststudiums oder der praktischen Erfahrung.

Vorhersehbare Pandemie

Wir vertrauen Wissenschaftlern, berufen uns auf Wissenschaft um unsere Argumente zu untermauern und nennen andere Meinungen unwissenschaftlich, wenn sie uns nicht gefallen. Wir geben es nicht zu aber wir glauben an die Wissenschaft. Wissenschaft ist ein wichtiges  Werkzeug um bestimmte Dinge des Lebens zu untersuchen.  Allerdings ist Wissenschaft auch ein Status-Begriff, den alle verwenden wollen um ihre Ideen besser zu vermarkten. Es ist ein schmaler Grat zwischen nutzbringender Wissenschaft und Wissenschaftsleugnung auf der einen sowie Wissenschaftismus auf der anderen Seite. Als Beispiel für Wissenschaftismus wird dieses Buch in den ersten beiden Kapiteln einen Blick auf die begangenen Fehler während der COVID-19 Pandemie richten. Das Pandemie-Management war seit dem Ausbruch des Corona Virus in Deutschland und vielen anderen Ländern eine Katastrophe. Die Ursachen haben viel mit Wissenschaftismus zu tun. Wenn Wissenschaft zur Identität wird und dadurch kreatives Problemlösen behindert wird, fallen die Maßnahmen nicht effektiv aus. Im dritten Kapitel wird kurz die Entwicklung der Philosophie zur Wissenschaft skizziert und beschrieben was Wissenschaft  ausmacht. Das vierte Kapitel widmet sich den Konsequenzen von Wissenschaftismus, angefangen bei einer falschen Auffassung von Rationalität bis hin zu den Verfehlungen der Agrarwissenschaft.

Die folgende Kritik an der Reaktion auf die Pandemie ist keine Kritik an der Wissenschaft. Es ist eine Kritik am Management dieser Krise, denn Wissenschaft und Management sind zwei Paar Schuhe. Ich habe es als Eingangsbeispiel gewählt, weil Extremsituationen sich perfekt eignen Mängel an den Tag zu bringen. Wissenschaftismus war auf allen Seiten sichtbar, ob beim Pandemie-Management oder bei der Logik der Maßnahmengegner.

Wehret den Anfängen

Bereits im Januar 2020 warnten Wissenschaftler gemäß dem Vorsorgeprinzip (Precautionary Principle) vor dem neuen Virus aus Wuhan und forderten die Staaten auf Maßnahmen zu ergreifen um die internationale Mobilität einzuschränken.[16] Ihre Warnungen blieben unerhört. Betrachtet man die Reaktion der modernen Welt muss man konstatieren, dass Staaten im Mittelalter besser gegen Pandemien agiert haben (verglichen mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen). Sie trafen frühzeitig Vorsorgemaßnahmen wie eine Quarantänepflicht für Einreisende. Das Scheitern vieler Staaten wirft Fragen nach den Ursachen auf. Ein nicht zu leugnender Grund betrifft einen um sich greifenden Wissenschaftismus.

Dies soll aber keine allgemeine Abwertung der Wissenschaft sein, sondern nur auf ihren missbräuchlichen Einsatz aufmerksam machen. Wissenschaft hilft gegen Pandemien indem sie die Anzahl möglicher Instrumente erweitert aber sie ist weder notwendig wenn man früh genug interveniert, noch ausreichend, wenn zu spät Vorsorgemaßnahmen ergriffen werden.

Wissen und Nicht-Wissen

Die Corona Pandemie begann mit der Ignoranz des Vorsorgeprinzips und einem groben Kategorienfehler. Ein zu starres Festhalten an einer Kategorie verleitet dazu neue Situationen (neue Krankheitserreger) bei geringer Beweislast mit alten zu vergleichen. Wenn etwas falsch kategorisiert wird, fällt die Reaktion darauf nicht angemessen aus. Als das SARS Virus sich im Jahr 2002 verbreitete verglichen Experten es mit bereits bekannten Viren, die ähnliche Symptome verursachen und die Behandlungsmethoden und Eindämmungsmaßnahmen richteten sich nach dieser Kategorie aus. Experten waren zum Beispiel der Auffassung, dass sich derartige Viren nicht außerhalb des infizierten Körpers verbreiten könnten. Eine, wie sich kurze später rausstellen sollte, fatale Annahme. Während Hongkong diesen Kategorienfehler beging, erkannte Vietnam schnell, dass eine neue Kategorie für dieses Virus nötig ist und war das erste Land das SARS besiegen konnte. [17] Zu Beginn der Corona-Pandemie begingen die Verantwortlichen die gleichen Kategorienfehler wie seinerzeit bei SARS.

Zusammen mit den Politikern, haben auch die Experten, die in den Medien von Anfang an präsent waren, kein gutes Bild abgegeben. Zu Beginn haben sie die Lage verharmlost und die falschen Ratschläge erteilt. Später lagen sie mit ihren Prognosen daneben. Was mich am meisten gestört hat war ihre Art der Kommunikation. Durch falsche Prognosen und Annahmen sorgten sie für Verwirrung und Misstrauen in der Bevölkerung. Seine Meinung zu ändern ist ja notwendig wenn sich die Faktenlage ändert, aber es ist nicht das was ich an den Aussagen der Experten und Politiker kritisiere. Sie wissen (noch) nicht wie der Sachverhalt sich darstellt, aber behaupten trotzdem es zu wissen. Ehrlichkeit wäre gegenüber den Bürgern angebracht. Es ist angebracht ihnen zu erklären, dass wir vorsorglich diese Maßnahmen treffen, aufgrund der drohenden Gefahr und wenn mehr Daten erfasst werden können, die Maßnahmen entsprechend anpassen. In Wirklichkeit haben Experten und Entscheidungsträger mit Überzeugung behauptet zu wissen welche Maßnahmen richtig sind oder auch nicht, obwohl man es noch nicht sicher wusste. Masken wirkten anscheinend nicht, man solle auf Desinfektion und Händewaschen setzen. Wenn sich genügend Menschen impfen lassen, brauchen sie sich nicht mehr auf das Virus testen. Das sind zwei Beispiele bei denen sie daneben lagen und hinterher Vertrauen bei der Bevölkerung einbüßten. Es stört mich nicht, dass sie es zu dem Zeitpunkt nicht wussten und ihre Meinung später änderten. Es stört mich, dass sie, obwohl sie es nicht wissen, Annahmen treffen und darauf aufbauend Handlungsempfehlungen geben. Zuzugeben, dass eine Strategie auf einem Vorsorgeprinzip basiert und Entscheidungen getroffen werden ohne alle Fakten zu kennen, ist in unserer Gesellschaft verpönt. Als Konsequenz führt Wissenschaftismus zu tödlichen Kategorienfehlern.

Es ist überlebenswichtig Nicht-Wissen ebenso zu berücksichtigen wie gesichertes Wissen. Während der Pandemie entbrannten Diskussionen bezüglich der Fallzahlen und Sterblichkeitsraten. Es wurde bemängelt dass die Corona-Tests unzuverlässig seien und viele falsch-positive Meldungen auslösten. Die Sterblichkeitsrate wurde in Zweifel gezogen. Es gebe sicher viele ungetestete und nicht-erfasste Erkrankungen. Die Sterblichkeit würde sich wohl nicht weit weg vom Niveau einer saisonalen Grippe befinden. Wenn immer unsere Messung unzuverlässig ist, ist es ein schlechter Rat diese in einem Narrativ zu nutzen. Die Sterblichkeitsrate eines Virus ist ein theoretisches Konstrukt. Es wird erst zur Realität wenn es auf Kontext trifft, sprich Menschen. Bei den Bedingungen für die Zuverlässigkeit von Messung und Prognose handelt es sich um freie Parameter: Wie zuverlässig sind die Tests? Besteht nach einer Infektion eine langfristige Immunität? Wie entwickelt sich die lokale Verbreitung des Virus? Wo und warum gibt es Verteilungsschwerpunkte (neudeutsch Cluster)? Was sind die Gründe für einen schweren Verlauf der Krankheit? Sind manche Menschen genetisch bedingt anfälliger? Ist die Blutgruppe verantwortlich? Ist es eine geringe oder hohe Viruslast, die leichte oder schwere Verläufe verursacht?

Unter diesen Bedingungen und mit diesen freien Parametern ist es unmöglich Prognosen durchzuführen oder exakte Sterblichkeitsraten zu definieren. Wenn jemand behauptet, die Krankenhäuser wären doch während der Pandemie leer (=nicht voll) gewesen, verdrängt er den Möglichkeitsraum, da er den Einfluss von Maßnahmen ignoriert. Sie bewerten ja auch keinen Extremisten (hoffe ich mal) nach ihrem aktuellen „Opfer-Score“ sondern nach der von ihrer Machtfülle abhängigen möglichen Taten. Wenn ein Löwe gefährlich ist (einen Menschen frisst) interessiert es mich nicht welche durchschnittliche Gefahr von Löwen ausgeht verglichen mit einem Autounfall. Er hat den Beweis erbracht dass er gefährlich für Menschen ist und das ist die Information die ich zu berücksichtigen habe. Hunde töten jedes Jahr weltweit wesentlich mehr Menschen als Löwen. Kein normaler Mensch würde daraus den Schluss ziehen, dass Hunde gefährlicher als Löwen sind.

Nicht-Linearität

Unsere Grenzen zu schützen, bewahrt uns nicht vor neuen Viren oder Virusvarianten. Eine Kontrolle bei Ausbruch einer Pandemie ist unmöglich. Es ist ein grober Denkfehler in solchen Aussagen enthalten, die unter uns gesprochen extrem gefährlich sind. Wenn zehn Menschen mit einem Virus nach Deutschland einreisen, kann niemand garantieren, dass alle auch erfasst werden. Wenn jeder Infizierte durchschnittlich drei andere Menschen ansteckt, scheint der Kampf aussichtslos. Was die meisten nicht mitdenken ist Nicht-Linearität. Einer von den zehn Infizierten wird als Superspreader fünfzig andere Personen anstecken. Zwei von ihnen werden drei anstecken, weitere zwei nur einen und fünf stecken überhaupt niemanden an. Infektionsgeschehen laufen nicht-linear ab. Das heißt selbst wenn nur acht der zehn Infizierten an der Grenze erfasst werden, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Superspreader verhindert wird oder gar das Infektionsgeschehen komplett gestoppt werden kann. Natürlich ist Glück dabei, aber man kann sein Glück auch ein stückweit erzwingen.

Trotzdem hört man permanent, man könne es nicht verhindern und wenn ein Land die Ausbreitung doch unter Kontrolle gebracht hat, dann findet man immer ein Argument der Art „Dieses Land ist ja eine Insel…“.

Es ist erschreckend, dass mit überregionalen Reisebeschränkungen eins der wichtigsten Instrumente der Pandemiebekämpfung komplett vernachlässigt wird. Stattdessen lässt man regionale oder nationale Lock-Downs zu, die viel kostspieliger sind und mehr Freiheitsrechte beschneiden. Die Alternative zum Lock-Down ist der Lock-Out, der in Form von Einreisebeschränkungen oder verstärkter Kontrolle bei der Einreise durch Test oder Quarantänepflicht einhergeht.

In jedem Café wurde im Sommer mein Impfpass gescannt, aber als ich im September 2021 aus dem Urlaub nach Deutschland eingereist bin, wurde am Flughafen gar nichts kontrolliert. Das ist völlig unverhältnismäßig. Maßnahmen müssen nachvollziehbar sein, damit sie bei der Bevölkerung Akzeptanz ernten.

Außerdem verstehen Politiker nicht, dass Maßnahmen nicht-lineare Effekte erzeugen. Viele „kleine“ Maßnahmen gleichzeitig (Masken, Tests, Luftfilter) können zusammen einen ähnlichen Effekt entwickeln wie harte Lock-Downs, bei geringeren Kosten für die Allgemeinheit.

Beziehungen sind wichtiger als Fakten

Bei einer Pandemie ist es wichtig, dass Gesellschaften zusammenhalten um die Krise so gut wie möglich zu überstehen. Jede Pandemielösung hat auch eine soziale Komponente.

Menschen bewerten Situationen und Informationen abhängig von ihren Beziehungen. Es ist gar nicht so sehr die Information an sich, die ein Mensch erhält für seine Sicht auf die Welt relevant, sondern von wem sie kommt. Vertrauen ist hier die entscheidende Währung. Zum Beispiel haben Bürger eine Beziehung zu ihrer Regierung oder den Medien. Sämtliche Informationen von der Regierung werden im Rahmen dieser Beziehung bewertet. Misstrauen gegenüber den Behörden führt dazu, dass alle Maßnahmen dieser kritisch beäugt werden. Wer gute Erfahrungen gemacht hat oder kein Interesse an der Sache hegt, sieht das eher unkritisch. Das Problem dabei: Für die meisten Sachverhalte spielt die Beziehung aus objektiver Sicht keine Rolle, aber sie zu ignorieren hindert einen daran das Verhalten von Menschen zu verstehen.

Eine Beziehung wird von Menschen in einen Pfad der Möglichkeiten übersetzt, den man bereit ist zu akzeptieren oder zu glauben. Man erinnert sich sehr gut an diesen oder jenen Skandal an dem die Regierung beteiligt war und leitet daraus plausible Erklärungen ab. Weicht die Information die man von anderer Seite bekommt, von diesem Möglichkeitsraum ab, wird sie abgelehnt. Die Erfahrungen die man im Laufe seines Lebens gemacht hat sind nicht irrelevant und natürlich lügen Politiker genauso häufig wie Journalisten daneben liegen. Doch wenn sich neue Sachverhalte einstellen und Krisen verursachen, wird diese kritische Beziehung die man pflegte irrelevant.

Seit Anfang der Pandemie ist deutlich geworden, dass die Haltung zum Infektionsgeschehen in erster von den politischen Standpunkten der Menschen vor Corona abhängig war. Die politischen Konflikte wurden in die Pandemiesituation übertragen und erschweren eine effiziente Bekämpfung.

Einige Menschen behaupten dabei, dass bei einem Killervirus alles anders ablaufen würde. Die Regierungen werden entschiedener reagieren. Die Bürger werden die Maßnahmen bereitwillig akzeptieren. Es wird kaum Widerstand geben. Ich kann diesen Optimismus nicht komplett teilen.

Der ein oder andere hat eine falsche Vorstellung davon, wie eine Pandemie abläuft. Wenn das Killervirus kommt, werden nicht in allen Regionen die Krankenhäuser gleichzeitig überlaufen. Viele Regionen werden kaum etwas spüren, bis sie an der Reihe sein werden. Es werden Bilder in den Medien aus den Krisenregionen zu sehen sein. Regierungskritiker werden immer einen Anhaltspunkt finden können diese anzuzweifeln. Bei Ebola Ausbrüchen in Afrika wird regelmäßig über das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber Behörden berichtet. Misstrauen ist Misstrauen egal welcher Erreger gerade unterwegs ist.

Pandemie-Management

Es ist der Lösung eines Problems abträglich wenn sich Gruppen bezüglich dieses Problems bilden und voneinander abgrenzen, vor allem wenn vormalige Konflikte in eine Pandemie hineingetragen werden. Die Länder, die die Pandemie nicht politisiert haben, kamen am besten durch die Krise. In Deutschland herrscht hingegen eine toxische Stimmung.

Einige unterstützen Virologen und identifizieren sich mit dem „Team Drosten“ oder dem „Team Kekulé“. Andere können nichts anderes von sich geben als ständig das Beispiel „Schweden“ zu zitieren und  alle anderen Länder zu ignorieren, die ein besseres Management hinbekommen haben.

Wissenschaftliche Daten werden immer so interpretiert, dass sie zur eigenen Position passen. In den Sozialen Medien kursieren dann Fake News, wonach Impfungen nicht wirken oder Masken nichts bringen würden.

Dieses Lagerdenken ist begleitet von einer gewissen Inkompetenz geeignete Lösungen zur Bewältigung der Pandemie zu finden.

Was mit Medien

Was bedeutet es eigentlich ein Experte zu sein? Ein Luftfahrtingenieur kann Flugzeuge konstruieren aber kann er sie auch fliegen? Ein Flugzeugingenieur ist kein Pilot. Ich stelle diese Fragen um auf einen Unterschied aufmerksam zu machen, den die Allgemeinheit während dieser Pandemie übersehen hat. Es geht um den Unterschied zwischen Wissenschaft und Management. Die Aufgaben eine Pandemie zu managen und ein Virus zu erforschen unterscheiden sich in ähnlicher Weise, wie diese ein Flugzeug zu konstruieren und eines zu fliegen. Ein Arzt, Virologe oder Epidemiologie, können wichtige Erkenntnisse gewinnen auf deren Basis Entscheidungen zur Eindämmung des Virus getroffen werden können. Diese Entscheidungen muss aber jemand mit Management-Kompetenz treffen, der verschiedene Aspekte in eine Gesamtstrategie integrieren muss.

Das Vertrauen, das Verantwortliche und weite Teile der Öffentlichkeit manchen Experten während der Corona-Pandemie zur Einschätzung der Situation entgegengebracht haben war ungerechtfertigt. Eine Corona-Epidemie gab es vorher nicht. Es gibt keine Experten die bereits überstandene COVID-19 Epidemien studieren können. Es handelt sich um eine neue Kategorie von Virus.

Hier treten Komplexitätsforscher und Statistiker in den Vordergrund, die multiplikative Ereignisse und deren Gefahren studieren.[18] Ihre Expertise liegt nicht auf der Mikroebene der Viruserforschung (N=1) sondern auf der Makroebene der Verbreitungsdynamik (N= sehr groß).

Die Instrumente richtig verstehen

Die Mittel der Pandemiebekämpfung müssen richtig verstanden werden damit sie effektiv eingesetzt werden können. US-Epidemiologe und Immunologe Michael Mina äußert harsche Kritik an der Teststrategie vieler Regierungen.[19] Antigen-Schnelltests messen wie infektiös eine Person ist.  Das Auftreten von Symptomen bedeuten nicht dass man auch infektiös ist. Dieser Trugschluss bewegt Behörden dazu Schnelltests als nicht verlässlich genug wahrzunehmen. Schnelltests strategisch einzusetzen, bedeutet Massentests vor und nach Feiertagen durchzuführen, als auch sich zu testen direkt bevor man losfährt, da innerhalb weniger Stunden die Viruslast steigen und ein anderes Testresultat ergeben kann. Schnelltests können, massenhaft angewandt, die Verbreitung des Virus reduzieren, weil Infizierte sich frühzeitiger in Quarantäne begeben. Die Vorteile der Anti-Gen-Schnelltests umfassen eine hohe Verfügbarkeit, Schnelligkeit und Testfrequenz. Erste Anti-Gen-Schnelltest gab es bereits zu Beginn der Pandemie, sie wurden aber erst ein Jahr später flächendeckend eingesetzt. Als Studien ergaben, dass Corona über die Luft übertragen wird,[20] hat man sich zu wenig auf geeignete Werkzeuge wie Belüftungskonzepte konzentriert.

Es ist ein Armutszeugnis, dass kaum einer der Entscheidungsträger und Meinungsführer die zur Verfügung stehenden Instrumente bei ihren Vorschlägen und Maßnahmen in ihrer letzten Konsequenz verstanden hat. Sie präferieren Lock-Downs weil sie drastisch wirken und Impfungen weil sie wissenschaftlich komplex sind. Masken und Schnelltests werden eher als Beiwerk betrachtet, weil sie einfach und „primitiv“ wirken. Auf der anderen Seite konzentrieren sich viele Gegner der Regierungsmaßnahmen nicht auf berechtigte Kritik einzelner Ausführungen (oder deren Unterlassung), sondern lehnen auch die sinnvollen Punkte pauschal ab. Gegner kritisieren PCR-Tests aber bieten keine Alternative, lehnen Antigen-Schnelltests ab weil sie anscheinend nicht funktionieren. Sie sind dagegen nur um dagegen zu sein und erkennen nicht, dass Antigen-Schnelltests ihre Situation verbessern könnten.

Der Beschluss der Maßnahmen fußt auf Wunschdenken, zum Beispiel mit der Annahme dass Geimpfte das Virus nicht übertragen können. Impfungen würden die Pandemie für sich allein beenden, dachten viele. Die Fokussierung auf ein Instrument hält viele Risiken bereit. Man kann nicht davon ausgehen, dass bei der nächsten Pandemie so schnell ein Impfstoff hergestellt werden kann, der gut genug wirkt, zumal die Gefahr von Mutationen hoch ist.

Den Behörden fehlt es nicht an Wissen und Mitteln um mit Bedrohungen wie Pandemien umzugehen. Ihnen fehlt die Phantasie!

Die falschen Annahmen des Nudgings

Zu Beginn der Pandemie wurde der britische Premierminister Boris Johnson von seinen Beratern überzeugt auf Nudging zu setzen anstatt Maßnahmen gegen die Pandemie zu ergreifen. Da sich die epidemische Lage verschlechterte musste er diese Entscheidung schnell revidieren.  Im Oktober 2021 schaffte der damalige deutsche Gesundheitsminister kostenlose Bürgertests für alle ab, damit sich mehr Menschen impfen lassen. Daraufhin stiegen die Infektionszahlen massiv an. Einige Wochen später beschloss die neue Bundesregierung, dass für Geboosterte kein Test mehr erforderlich ist, um mehr Menschen zu motivieren sich boostern lassen, obwohl keine Klarheit herrschte wie gut Geboosterte gegen die neue Omikron-Variante geschützt sind. Auch diese Beispiele aus Deutschland gehen auf Nudging zurück. Ich sehe zwei große Probleme einen Nudging-Ansatz inmitten einer Pandemie zu fahren. Nudging Problem Nummer eins ist, dass die Reaktion der Menschen nicht vorherbestimmbar ist. Wieder treffen Entscheidungsträger Annahmen, die sich als falsch herausstellen könnten. Wird der Effekt der höheren Impfungen sich lohnen gegenüber dem geringeren Testraten? Das bringt uns direkt zu Nudging Problem Nummer zwei. Nudging erzeugt einen Zielkonflikt, die Behörden setzen auf die Verstärkung eines Verhaltens auf Kosten eines Anderen, in dem Fall sich impfen zu lassen versus sich testen zu lassen. Beides ist vorteilhaft. Nudging reduziert in dem Fall Optionen. Abhängig von der Lebenssituation des Einzelnen kann Impfen oder Testen die bessere Option darstellen. Der Staat verhindert diese Entscheidungsfreiheit, wenn er den Bürger in eine Richtung „schubst“.

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[1] (Hannam, 2010)

[2] (Haack, Defending Science-Within Reason: Between Scientism And Cynicism, 2007)

[3] (Hannam, 2010)

[4] (Elster, 2007)

[5] (Bornmann, 2015)

[6] (Haack, Six signs of scientism, 2012)

[7] (Feyerabend, Wider den Methodenzwang, 2001)

[8] (Taleb N. N., Skin in the Game. Das Risiko und sein Preis, 2018)

[9] (Simon, 1991)

[10] (Sutherland, 2019)

[11] (Meyers, 2007)

[12] (Popper, 2003)

[13] (Scott, 1998)

[14] (Marmot, 2004)

[15] (Taleb N. N., 2014)

[16] (Norman, Bar-Yam, & Taleb, 2020)

[17] (Lambe, 2007)

[18] (Bahrami, Morales, & Norman, 2021)

[19] (Mina, Parker, & Larremore, 2020)

[20] (Tang, Marr, Li, & Dancer, 2021), (Wilson, Corbett, & Tovey, 2020)

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