Nationalismus: Merkmale und Bedeutung

von Ioannis Alexiadis

Die Auswirkungen der Moderne auf menschliche Gemeinschaften

In der Vormoderne wurde die Ordnung der Natur von den Menschen nicht in Frage gestellt. Dies änderte sich im Zuge der Aufklärung. Die alleinige Bedeutung der Religion für das Zugehörigkeitsgefühl schwand und wurde durch die Kultur ersetzt, die auf einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamer historischer Erfahrungen und/oder auch einer gemeinsamen Religion zurückgreifen konnte. Dementsprechend verloren die religiös legitimierten, monarchischen Dynastien ihre Berechtigung. Die Natur wurde nun analysiert und kategorisiert. Diese Sichtweisen wurden auch auf menschliche Gemeinschaften angewandt. Als neues politisches System entstand das Konzept der Nationen.

Kompatibilität mit anderen Ideologien und Ordnungen

Im Lauf der Geschichte haben sich unterschiedliche Typen von Nationalismen herausgebildet, die völlig verschiedenen Ordnungen folgten. Für Lateinamerika war der Einbezug der ehemaligen Sklaven und Indios in die neu entstandenen Nationen charakteristisch. Die Sprache, als auch die gemeinsamen Erfahrungen in den einzelnen Verwaltungsregionen des spanischen Imperiums, dienten in diesen Fällen als einende Elemente. Nationalismus war die Liebe zur Nation, in der die Nationalbürger eine große Familie bildeten.
Liberale Bewegungen in Mitteleuropa (z.B. Deutschland, Italien im 19. Jahrhundert) griffen die nationalistische Idee auf und forderten demokratische, nationale Parlamente. Nationalismus war auch ein wichtiger Treiber im Prozess der Dekolonisation während des 20. Jahrhunderts.
Auf dem Balkan entbrannte hingegen ein Kampf um Identitäten. Brutale und opferreiche Kriege mussten die Frage nach der ethnisch-religiösen Herkunft klären, die das Merkmal der Nation bildete.
Ein Grund für die unterschiedlichen Ausprägungen des Nationalismus dürfte dabei der zeitgenössische Kontext sein. Während die lateinamerikanischen Nationalismen des 18. Jahrhunderts einen anti-imperialistischen Charakter hatten, war beim deutschen Nationalismus des 20. Jahrhunderts die Ideologie des Rassismus in der westlichen Welt bereits vollständig ausgeprägt.

Nationalismus an sich ist eine einnehmende Ideologie, die danach strebt möglichst viele Menschen und geographische Räume in die nationalistische Gemeinschaft einzuschliessen und in dem Sinne nach Expansion strebt. Ausgrenzungen aus dieser Gemeinschaft werden von rassistischen Denkelementen legitimiert, die über die Definition des Kulturbegriffs Einzug in den Nationalismus erhalten.

Erklärungsansätze zur Entstehung der nationalistischen Ideologie

Nationen sind vorgestellte, anonyme Gemeinschaften, da die meisten ihrer Angehörigen sich nicht persönlich kennen. Sie befriedigen das menschliche Bedürfnis nach Identität und Zugehörigkeit. Historisch betrachtet hängt das Entstehen des Nationalismus mit dem Übergang von der Agrar- in die Industriegesellschaft zusammen. In der Agrargesellschaft fand die Ausbildung innerhalb einer kleinen Gruppe statt; die Sprache war sehr kontextbezogen und lokal sehr unterschiedlich. Dementsprechend stellte es für die Menschen kein Problem dar von Herrschern regiert zu werden, die einer anderen Kultur angehörten. Die komplexere Arbeitsteilung der Industriegesellschaft veränderte das Ausbildungs- und Arbeitsleben der Menschen und damit die Hauptquelle ihres Identitäts- und Zugehörigkeitsbedürfnisses. Nun war eine standardisierte, kontextfreie Kommunikation und Ausbildung erforderlich. Jeder musste die gleiche Grundausbildung durchlaufen um Mobilität für die Flexibilitätsansprüche der Industrie zu gewährleisten. Eine große Masse von Menschen hatte nun eine gemeinsame Grundlage auf der ein neuer, moderner Staat aufgebaut werden konnte. Dies führte zum Grundprinzip des Nationalismus: der Einheit von Kultur und Staat.

Geografische und kulturelle Räume

Um Nationalismus und das Zusammenspiel von Kultur und Staat zu verstehen, muss man deren unterschiedliches Raumkonzept begreifbar machen. Im Gegensatz zu einem geografischen Raum, der im Lauf der Geschichte konstant bleibt (z.B. die Balkanhalbinsel, die Iberische Halbinsel oder Sibirien) ist ein kultureller Raum einem ständigem Wandel unterlegen. Durch Migration, Eroberung oder innere Reformen veränderten und verlagerten sich Kulturen mit der Zeit. Ein Staatsterritorium umfasst dabei einen geografischen Raum. Verglichen mit einem Nationalstaat war bei anderen Staatsformen, wie Monarchien oder Imperien, dieser nicht deckungsgleich mit dem kulturellen Raum. Um die Forderung nach der Einheit von Kultur und Staat zu legitimieren führte dies in manchen Fällen zur Ausbildung des Narrativs eines nationalistischen Mythos: Ein geografischer Raum, (der oft dem Staatsterritorium entspricht) wird mit einem kulturellen Raum gleichgesetzt und für historisch konstant gehalten. Diese Vorstellung ist bis in unsere heutige Zeit weit verbreitet.

Die Ideologie des Nationalismus

Der nationalistische Wettbewerb

Politisch-geografische Räume sind begrenzt. Sie können nur einem Staat angehören. Historisch-kulturelle Räume sind bedingt knapp, da sich Menschen nur mit einer begrenzten Anzahl an Kulturen identifizieren können. Diese Knappheit an Räumen führt zu einem Wettstreit zwischen Nationalstaaten und ist die Ursache vieler vergangener und aktueller Konflikte.

Leitkultur und das Selbstbestimmungsrecht der Völker

Aus dem Gedanken der Einheit von Kultur und Staat ergeben sich je nach vorherrschenden politischen Zuständen, unterschiedliche Forderungen und Ziele politischer Bewegungen, die sich der nationalistischen Ideologie bedienen.

Bei Nichtvorhandensein eines Nationalstaats wird auf das Selbstbestimmungsrecht der Völke verwiesen, das sich gegen die aktuelle politische Ordnung richtet. Diese Ordnung kann ein Imperium, eine Monarchie oder ein anderer, bereits existierender Nationalstaat sein.

GegnerBeispiele
ImperiumAntikolonialismus in den europäischen Kolonien in Afrika und Asien
MonarchieAntimonarchismus der 1848er Revolution
NationalstaatUnabhängigkeitsbewegungen der Kurden oder Katalanen

Existiert bereits ein Nationalstaat für die betreffende Kultur, tritt die Förderung und Verteidigung einer Leitkultur in den Vordergrund. Ziel ist die Integration aller Mitglieder einer Gesellschaft. Von Einwanderern werden Anstrengungen zum Erlernen der Amtssprache erwartet, da diese für Behördengänge, kulturelle Programme, oder am Arbeitsplatz essentiell ist. Auch wird die Akzeptanz von Grundwerten von ihnen eingefordert, in deren Rahmen aber kulturelle Eigenheiten, wie die Ausübung von Religion oder die Verwendung der Muttersprache, toleriert werden.

Die Idee des Nationalismus wurde mittlerweile weltweit verwirklicht und ist im Alltagsleben und Denken der Menschen tief verankert, unter anderem in Form von nationalen Sportmannschaften oder nationalen Parlamenten.

Literatur:

Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation: Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Campus-Verlag, 2005.

Gellner, Ernest: Nationalismus und Moderne. Rotbuch-Verlag, 1991.

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