Geschichtsverständnis

von Ioannis Alexiadis

Grundlagen

Jedes historische Ereignis hat Vorbedingungen

Welche Faktoren waren für den Aufstieg Europas in der Neuzeit verantwortlich? Waren hierfür die Entstehung einer neuen europäischen Kultur, technologische Innovationen oder Militarismus und Eroberungsdrang verantwortlich? Historiker vertreten an diser Stelle unterschiedliche Auffassungen. In Wirklichkeit ergibt sich ein komplexes Geflecht aus mehreren gleichzeitig auftretenden Faktoren und Ereignissen, die nur unter speziellen Bedingungen eintreten. Viele dieser bedingten Ereignisse führen zu Kopplungs- und Verbundeffekten, die in einem völlig anderen Themenfeld unbeabsichtigt eine entscheidende Rolle einnehmen können. Die Erschließung einer neuen Energiequelle (Kohle) kann beispielsweise die Herstellung neuer Produkte ermöglichen (Stahl), die wiederum weitere Innovationen anstoßen (Eisenbahn), die strategische Vorteile in einem anderen Aktionsfeld bieten (Nachschublinien fürs Militär; Mobilität für die Zivilbevölkerung; etc.). Diese Prozesse hängen sehr stark vom Zufall ab.
Neue Imperien konnten nur entstehen weil in einem günstigen Zeitpunkt ihre Nachbarn sich in einer Schwächephase befanden und ihnen Raum zur Expansion boten. Dies war bspw. beim arabischen, mongolischen oder britischen Imperium der Fall.

Geschichte kennt nur eine Richtung

Die Bewertung historischer Ereignisse aus der Gegenwart heraus ist für das Geschichtsverständnis nicht hilfreich. Der historische Kontext entwickelt sich von der Vergangenheit hin zur Zukunft. Die gleichen Phänomene haben im Hinblick dieses Kontextes eine völlig neue Bedeutung. Der Gedanke, Rassismus habe zur Sklaverei geführt missachtet diese evolutionäre Entwicklung. Sklaverei existierte schon lange bevor die rassistische Ideologie zu Tage trat, in derem Zuge sich neue Formen von Sklaverei entwickelten.

Nichts geht verloren

Ideen, Ideologien etc. verändern und wandeln sich im Lauf der Zeit, gehen aber (meist) nicht komplett verloren. Nach dem Verschwinden des Zoroastrismus fand sich sein Dualismus teilweise im christlichen Glauben wieder. Elemente unterschiedlicher Ideologien oder Einstellungen, können leicht zu etwas Neuem verschmelzen.

Die Sieger schreiben die Geschichte

Geschichte existiert nur wenn sie aufgeschrieben wird. Da dies in den meisten Fällen von den Siegern historischer Auseinandersetzungen geschieht, wird deren Sicht im historischen Verständnis weitertransportiert. In der Moderne war es im Prozess der jeweiligen Nationwerdung notwendig historische Vorbilder für die nationale Idee zu vereinnahmen.

Historische Relevanz

Bei historischen Erklärungen ist die Relevanz einzelner Elemente zu beachten. Menschen blenden dabei unbewusst Relevantes aus wenn sie Geschichten erzählen. Die Kognitionspsychologie nennt dieses Phänomen WYSIATI(What you see is all there is). Aber auch das Einbeziehen irrelevanter Sachverhalte in die Geschichte, kann deren Aussagekraft verringern.

Historische Konsistenz

Erst wenn alle relevanten Faktoren und Bedingungen zusammenkommen entsteht ein historisches Ereignis. Dies kann anhand einer Kuchenmetapher verdeutlicht werden. Hat ein Kuchenrezept 10 Zutaten und fehlt nur eine von ihnen, wir am Ende ein anderes Ergebnis eintreten als der gewünschte Kuchen. Wird eine unpassende (nicht-relevante) Zutat hinzugegeben, ist ebenfalls mit einem abweichenden Ergebnis zu rechnen.
Welche Zutat „entscheidend“ ist, kann nicht angegeben werden, da wir nur das Endergebnis sehen (Kuchen / historisches Ereignis). Daher ergibt eine Gewichtung historischer Faktoren keinen Sinn. Eine alternative Geschichtsschreibung (was wäre wenn) ist in der Geschichtswissenschaft ebenfalls nicht abbildbar. Ereignis und Vorbedingungen, sind (analytisch) nicht voneinander trennbar.

Konzepte und Ansätze

Kliodynamik

Die Kliodynamik stellt einen solchen Versuch dar. Dabei versucht diese Disziplin nicht Prognosen aus historischen Daten abzuleiten oder zukünftige Entwicklungen vorherzusagen, sondern Determinanten zu erkennen, die bspw. die Anfälligkeit von Systemen für Krisen oder Umstürze beschreiben. So erklärt die Kliodynamik politische Unruhen nicht nur mit einem stagnierendem und sinkenden Lebensstanrd, sondern auch mit einer „Überproduktion“ an Eliten, die zu einem verschärften Wettbewerb um knappe Ressourcen führt.
Glaubensordnungen dienen als Legitimation für politische Systeme. Sie haben allerdings ein Problem vollkommen widerspruchsfrei zu bleiben. Ihre Anhänger blenden diese Widersprüche aus, während ihre Gegner den Versuch unternehmen diese Widersprüche zu beseitigen, wobei sie in der Regel neue Widersprüche produzieren. Sie dienen den konkurrierenden Eliten als ideologischer Treibstoff, der oft mit der Unvereinbarkeit von Freiheit und Gleichheit zusammenhängt.

Chronoferenz und Zeitschaft

Achim Landwehr hat die Begriffe Chronoferenz und Zeitschaft eingeführt. Chronoferenz beschreibt die Herstellung von „Beziehungen zwischen anwesenden und abwesenden Zeiten“. Das Wort „Zeitschaft“ ist angelehnt an den Begriff „Landschaft“ und versucht eine begriffliche Hilfe für das Historische bereitzustellen. Hintergrund ist auch in einem neuen Geschichtsverständnis den Begriff „die Geschichte“ durch „das Historische“ zu ersetzen.

Literatur:

Landwehr, Achim: Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. S.Fischer, 2017.

Turchin, Peter: Cliodynamics – can science decode the laws of history? The Conversation, 2012. (zuletzt abgerufen am 26.5.2017)

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