Kognitive Verzerrungen

von Ioannis Alexiadis

Die Kognitionspsychologie hat verblüffende Erkenntnisse über das menschliche Denken hervorgebracht. Menschen sind keine rationalen Wesen, sondern von ihren beiden Denksystemen 1 und 2 abhängig. Folgende Prozesse steuern unser Denken:

Verfügbarkeit

Unser Gedächtnis ist eine Assoziationsmaschine, die abhängig von Hinweisreizen, in der Vergangenheit abgespeicherte Informationen zur Verfügung stellt. Welche Informationen hervorgerufen werden entscheidet u.a. das sogenannte Priming. Unsere Entscheidungen hängen stark von unserem Unterbewusstsein ab. Kürzlich aufgetretene Umstände, wie das Wetter, der Aufenthaltsort oder bestimmte Wörter rufen Assoziationen im menschlichen Gedächtnis auf, die unsere Meinungen und Entscheidungen beeinflussen. Die Konsistenz individueller Urteile ist oft nicht gegeben, da Urteile kontextabhängig sind und dementsprechend variieren können. Diese Inkonsistenz schränkt allerdings die Kompetenz von Experten auf spezielle Felder ein: Auf die Intuition von Experten ist nur Verlass, wenn sie Erfahrungen in einem relativ stabilen Umfeld durch langjähriges Üben aufgebaut haben. Ihre Fähigkeiten beschränken sich dabei auf Situationen in denen sie ein unmittelbares Feedback erhalten.

Kognitive Leichtigkeit stellt sich ein, wenn gute Laune, ein Priming-Effekt, eine klare Darstellung oder eine häufige Wiederholung gegeben sind. Sie macht Menschen weniger kritisch, weil sich Aussagen unter diesen Umständen „wahr anfühlen“. Die Abrufflüssigkeit, die sich in einer schnellen Verfügbarkeit von Informationen aus dem Gedächtnis äußert, wird als Hinweis auf Plausibilität interpretiert und falls die Abrufflüssigkeit gestört ist, wird ein Widerspruch vermutet. Auf diese Weise entstehen Narrative. Menschen brauchen kohärente Geschichten. Selbst wenn zu wenige Informationen zugänglich sind, bauen Menschen aus ihnen eine Erzählung auf, die ihnen als Erklärung dient. Dabei neigen Menschen dazu nur die Informationen zu betrachten, die für sie ersichtlich sind und fehlende Informationen, die aber relevant sein können, zu ignorieren. Dieses Phänomen wird WYSIATI (What you see is all there is) genannt. Aber auch das Aufnehmen von irrelevanten Informationen in die Geschichte lässt den Wahrheitsgehalt von Narrativen sinken. Denn je detailreicher eine Erzählung, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit dass sie wahr ist. Dies führt bei Menschen in Machtpositionen zu übersteigertem Selbstbewusstsein und Blindheit gegenüber den eigenen Fehlern, aber auch zu einer Kompetenz-Illusion bei manchen Experten. Es zählt auch allgemein zu den häufigsten kognitiven Verzerrungen im Alltagsleben.

Repräsentativität

Stereotype erlauben uns Informationen schnell zuzuordnen, führen aber oft zu kognitiven Verzerrungen. Repräsentativitätsheuristiken missachten statistische Regeln, indem sie Basisraten ignorieren. Basisraten dienen zur Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten, wenn keine zusätzlichen Informationen vorhanden sind. Soll die Größe eines Mannes in Deutschland geschätzt werden den man nicht kennt, sollte aus statistischen Gründen die Durchschnittsgröße von Männern in Deutschland (Basisrate) genannt werden. Erhalten Sie die zusätzliche Information, dass dieser Mann Basketballspieler ist, sollte der Durchschnittswert nach oben korrigiert werden. Diese Art von statistischen Basisraten wird in der Regel untergewichtet oder nicht beachtet, wenn spezifische Informationen vorhanden sind. Diese zusätzlichen Informationen bilden kausale Basisraten, die Stereotype auf Gruppen übertragen, wie:

Die Deutschen trinken gerne Bier.

Sie werden mit anderen Informationen über den Fall verknüpft um eine kohärente Geschichte zu erzeugen.
Daher tuen sich Menschen schwer damit das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten und neigen dazu das Allgemeine aus dem Besonderen zu schlussfolgern. Sie glauben dass alle Menschen Egoisten sind, wenn sie egoistisches Verhalten beobachten. Sie glauben nicht dass Menschen Böses tuen können, die nett und hilfsbereit sind und missachten dabei die statistischen Basisraten.
Ein Grund hierfür ist die Intensitätsabstimmung die Menschen bewusst oder unbewusst durchführen. Wir vergleichen und bewerten Dinge die wir nicht vergleichen und bewerten können, durch die Übertragung von einer Skala auf eine andere:

Klaus ist so groß, wie der Apfel grün ist.

So ein Vergleich ergibt aus einem statistischen Standpunkt aus, keinen Sinn. Die Rolle des Glücks und Zufalls wird allgemein unterschätzt, bietet aber die logische Erklärung, wenn z.B. gute Leistungen, schlechter und schlechte Leistungen besser werden. Solche Phänomene haben damit zu tun was Statistiker die Regression zum Mittelwert nennen. Außerordentlich gute oder schlechte Leistungen oder andere beobachtbare Größen hängen stark vom Zufall ab. Mit der Zeit werden sie in Richtung des Mittelwerts tendieren. Viele Menschen werden sich diese Schwankungen aber mit einem Narrativ erklären, das diese Unterschiede an bestimmten Einflussfaktoren wie dem richtigen Feedback des Trainers ausmacht.

Ankerung

Für die Ankerung sind zwei Effekte, die Anpassung (System 2) und das Priming (System1) verantwortlich. Wird eine Person gebeten, ausgehend von einem vorgegebenen Wert als Anker, einen Schätzwert abzugeben, wird sie sich nur zögerlich von diesem Ankerwert entfernen und ihre Schätzung nur ungenügend anpassen. Außerdem beeinflusst der Ankerwert, über das Priming, unsere Wahrnehmung, sodass wir ohne den Ankerwert eine andere Schätzung abgeben würden.

Wie groß ist der größte Mensch der Welt?

Menschen denen vorher die Frage

Ist der größte Mensch der Welt größer als 2 Meter?

gestellt wurde werden einen niedrigeren Schätzwert abgeben (z.B. 2,1 Meter) als Menschen denen die Frage

Ist der größte Mensch der Welt größer als 3 Meter?

gestellt wurde. (z.B. 2,4 Meter) Der Ankereffekt ist eines der wenigen messbaren, psychologischen Phänomene, für dessen Bestimmung der Ankerungsindex verwendet wird. Er bemisst sich aus dem Verhältnis der Differenz der beiden Durchschnittsschätzwerte (z.B. 2,4 Meter – 2,1 Meter) und der Differenz der beiden Ankerwerte (3 Meter – 2 Meter). In dem Fall beträgt er 30 %.

Ankerung spielt bei Verhandlungen eine wichtige Rolle, da sie benutzt wird um unbewusst die eigene Verhandlungsposition zu stärken.

Ersetzung

Oft werden uns Fragen gestellt, die so komplex und vielschichtig sind, dass wir sie gar nicht beantworten können. Um dennoch eine Antwort zu geben, ersetzen Menschen sie unbewusst durch eine einfachere Frage. Auf die Frage welcher Präsidentschaftskandidat die Probleme des Landes am besten lösen könnte, antworten Menschen mit der Beantwortung der Frage welcher Kandidat ihnen am sympathischsten ist. Aktien einer Firma werden als aussichtsreich eingeschätzt, wenn etwas Positives über die Firma in den Nachrichten zu lesen war. Niemand ist in der Lage die Zukunft zu prognostizieren. Viele versuchen es aber indem sie die Gegenwart in die Zukunft projizieren. Das gleiche gilt für unser Verständnis der Vergangenheit, doch ohne es zu merken beantworten wir hier eine völlig andere, einfachere Frage.
Unsere Emotionen spielen bei der Ersetzung eine wichtige Rolle. Die Affektheuristik beschreibt, dass viele Urteile und Entscheidungen auf unseren Emotionen basieren. Mag ich das? Welche Emotionen löst es in mir aus? Das sind typische Ersetzungsfragen der Affektheuristik. Risikoeinschätzungen folgen dem gleichen Muster und sind auf Kohärenz bedacht. Laut dem Psychologen Slovic sind Risiken nicht objektiv messbar, sondern eng mit den Emotionen von Menschen verbunden. Experten quantifizieren aber Risiken und unterscheiden nicht zwischen den Qualitäten ihrer Messobjekte (Menschenleben, Zeit…), obwohl Ängste auch kulturell bedingt auftreten. Daher sollten die gefühlten Risiken der Öffentlichkeit respektiert werden und Experten sich zurückhalten. Der Rechtswissenschaftler Sunstein ist völlig anderer Meinung. Er vertritt die Ansicht, dass rationale Kosten-Nutzen-Rechnungen die beste Basis für die richtigen Entscheidungen sind. Er warnt vor Verfügbarkeitskaskaden, eine Kette von Ereignissen die oft von Medien mit der Berichterstattung über Geschehnisse mit geringer Relevanz losgetreten wird. Dadurch werden emotionale Reaktionen der Öffentlichkeit provoziert, die Affektheuristiken auslösen. Über den Verfügbarkeitsmechanismus werden die Erzählungen und Ängste reproduziert (neue Geschichten über die alten Geschichten). Diese Emotionen führen zu falschen Entscheidungen.

Literatur

Finucane, Melissa L.; Slovic, Paul, et al: The affect heuristic in judgments of risks and benefits. Journal of behavioral decision making 13.1, S. 1, 2000.

Kahneman, Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken. Penguin Verlag, 2016.

Kahneman, Daniel; Tversky, Amos: Judgment under uncertainty: Heuristics and biases. science 185.4157, S. 1124-1131, 1974.

Kuran, Timur; Sunstein, Cass R.: Availability cascades and risk regulation. Stanford Law Review, S. 683-768, 1999.

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